Ping Pong mit den Rolling Stones

„Ah, ein Konzert… Ach, die Stones… Okay, wir geh’n aber echt nur hin, wenn wir Pressekarten kriegen.“ – Als die Rolling Stones 1982 auf der Tour zum „Tattoo- You“ Album nach Hannover kommen, ist die Originalbesetzung von ELASTE nicht über die Maßen beeindruckt. Doch die Magie der Band geht auch Christian Wegner, Michael Reinboth und Thomas Elsner unter die Haut und sie werden für immer zu Fans der unsterblichen Stones. Allerdings erst am zweiten Konzertabend, backstage. Thomas Elsner erzählt.

“The Codependents” Keith Richards und Mick Jagger

Bloß der orangerote Baldachin vor dem Eingang des „Interconti“ bricht aus der Tristesse aus, die uns vor dem Hotel anödet. Es ist 1982 in Hannover, es ist Sommer und vom Himmel her ein selten schöner Tag. Und Michael, Christian und ich peilen die Lage vor dem grauen Betonquader, in den die Portiers niemanden mehr hereinlassen, jetzt schon länger. Als generation after und junge Zeitschriftenmacher wollen wir hinter das Phänomen der Stones steigen, die da für uns schon ein bisschen das sind, wovon sie in „Out Of Time“ singen: „obsolete“.
 
Der Punk ebbt gerade ab, das Neue heißt New Wave, alle tragen Aerobic-Stulpen, und die Stones sind für uns eher so etwas wie Götter der Ahnen oder eben Saurier, kommen auf alle Fälle aus einer anderen Zeitrechnung.
Vielleicht sind sie ja so wie die Mona Lisa: Ohne dieses Kunstwerk ist die Welt nicht vorstellbar, aber richtig verstehen tun wir es auch nicht.   
 
Ungeachtet dieser Einschätzung warten hier vor dem Hotel etliche Grüppchen von Journalisten und extra-enthusiasmierten Stones-Anhängern, werden immer wieder von den Doormen zurückgedrängt. „…Die Foyers der Hotels werden zum Mekka der Fans“, wird Michael später im Heft schreiben, und außerdem: „Reporter schlafen in den Ledersesseln.[…]Body-Guards lächeln ständig aus ihrer breitschultrigen Seele. Alles VIP.“

Music for the Masses. Die Rolling Stones im Sommer 1982 in Hannover. 

In einer andrangarmen Phase beschließen wir trotzdem, es einfach zu versuchen. Mit unseren New-Wave-Tollen, engen schwarzen Flohmarkt-Sakkos und spitzen Schuhen sehen wir ja eigentlich selbst aus wie eine Band. Vermutlich deshalb schlendern wir jetzt wie selbstverständlich an den Türhütern vorbei und unbehelligt weiter bis in den Fahrstuhl. Ohne nachzudenken drücken wir da auf den obersten Knopf – eine Band wie die Stones kann nur ganz oben residieren.
 
Auf den Fluren der letzten Etage reihen sich die Room-Service-Wagen aneinander, Tabletts mit Essensresten und leeren Flaschen stapeln sich darauf. Okay, hier sind wir richtig. Soweit gekommen, fühlen wir uns bereits ähnlich großartig wie Einbrecher im Louvre, denen es gelungen ist, die Alarmanlage auszutricksen. Und in einem Moment, in dem der Security Guard abgelenkt ist, schaffen wir es dann auch noch unmittelbar vor die Suiten der Stones. Eine Tür steht offen, durch den Spalt sieht man einen Instrumentenkoffer, und irgendwie stehen wir auf einmal im Zimmer von Bobby Keys, dem Saxophonisten der Stones.
Seltsamerweise scheint er nicht besonders erstaunt zu sein, uns zu sehen. Drei dünne, blasse Jungs mit schwarzen Haaren und so von sich selbstüberzeugt wie verklemmt, in zeitgeistiger, uniform dunkler Kluft – das alles ist offenbar nichts Ungewöhnliches für ihn. (Wie sagt Christian doch so schön, wenigstens so ungefähr? „Style öffnet alle Türen.“)
 
Wir nutzen diese nie wiederkehrende Chance auch prompt, halten ihm die neueste ELASTE-Ausgabe vor und erklären, dass wir gerne ein Interview mit Mick oder Keith machen würden. Woraufhin Bobby bloß lapidar fragt: „Ja, mit wem denn nun?“ „Na, dann mit Mick“, antworten wir, und er greift zum Telefonhörer. Doch Mick Jagger hebt nicht ab. Er will wohl nicht gestört werden. Stattdessen dröhnt jetzt die Stimme des vorhin abgehängten Security Guards durch den Raum. Und wir stehen schon wieder halb auf dem Flur, als plötzlich eine andere Tür aufgeht: Bill Wyman, aufgescheucht von dem Tumult, sondiert die Lage.

Bill Wyman beim Fünfuhrtee mit ELASTE.

Keys schildert ihm unser Anliegen kurz, da lädt uns Wyman auf einmal in überraschend höflicher Manier – geradezu gentlemanlike – auf Tee und Gebäck in seine Suite ein. Es ist schließlich Teatime. Dort macht er uns als Erstes mit seiner Langzeit-Freundin Astrid Lundström bekannt. Es ist ungelüftet hier, verraucht; dicke Polster, Möbel und Teppiche sollten wohl mal so eine Spätsiebziger(un)behaglichkeit suggerieren.

Wir plaudern dann eine Weile über Musik, Marc Chagall, indigene Völker und, natürlich, die Stones; darüber, dass angeblich keiner in der Band vorher weiß, was die anderen auf der Bühne tragen werden, auch wenn sich jeder aus einem nur für ihn bestimmten Klamotten-Fundus bedient; dass dafür aber alle genauestens über die Zahlen und Bilanzen zur laufenden Tour Bescheid wissen; Wyman erzählt uns außerdem, warum sie selbst Anfang der 80er noch immer nicht in Japan spielen dürfen, und von seinen Versuchen, elektronische Klänge in den Sound der Stones zu schleusen. Und dass ein großes Geheimnis der Band darin besteht, sich dauernd zu modernisieren und dennoch treu zu bleiben.

Jeder von uns fragt Bill, was ihm gerade durch den Kopf schießt; und Wyman ist dabei… und ruhig, zurückhaltend, fast liebenswürdig. Er hat dieses Lächeln in den Augen. Es kommt von woanders her, sagt man da vielleicht. Jedenfalls wirkt er ein bisschen, als hätte er so einen olympischen und trotzdem unbeteiligten Blick auf die Dinge. Und wir hängen an seinen Worten und Gesten, können es nicht fassen, dass wir wirklich mit ihm hier sind; und sprechen gleichzeitig mit ihm, als wären wir alte Bekannte. Nie, bei keinem einzigen ELASTE-Interview, haben wir die Fragen auf Papier stehen oder ein Skript oder so.

Bobby Keys auf der Suche nach Mick.

Bill Wyman und Astrid Lundstrom.

Mädchen für alles – Alvenia Bridges

Die Elaste-Squad. Foto Bodo Vitus

Als wir dann gerade gehen wollen, bittet Wyman mich plötzlich, Fotos von Astrid und ihm zu machen. Ich soll sie ihm später zuschicken. Es wundert mich, dass es kaum Bilder von den beiden geben soll, aber ich mache das natürlich gerne. Allmählich habe ich ohnehin das Gefühl, dass Wyman hocherfreut ist über unseren Besuch; es muss öde sein, auf den Tourneen so viel Zeit in Hotelzimmern abzusitzen. Wir wollen uns ein zweites Mal verabschieden, da fragt er: “Kommt ihr heute Abend zur Show?“
 
Wir hätten kaum etwas lieber getan, drucksen stattdessen aber verlegen herum und geben dann umständlich zu, dass die Pressekarten bloß für den ersten Tag gegolten hätten und unser Geld noch nicht mal für das billigste Ticket reicht.
 
Da lacht Wyman leise – und lädt uns dazu ein, das Konzert von der Backstage-Area aus als seine persönlichen Gäste mitzuerleben. Er klaubt noch ein paar Sachen zusammen, zieht sich etwas über, was er später auch auf der Bühne tragen wird, dann fahren wir mit Astrid und ihm im Shuttlecar hinter abgedunkelten Scheiben direkt ins Niedersachsenstadion. Als wir aussteigen, müssen die Bodyguards auch uns einen Weg durch eine hysterische Meute aus Fotografen, Fans und Presseleuten bahnen. Wir waten im Kielwasser von Wyman und Lundström durchs Blitzlichtgewitter, plötzlich sind alle brennend auch an uns interessiert: „Wer seid Ihr?“, „Seid Ihr eine Band?“, rufen sie uns zu und drücken auf ihre Auslöser.

Nachdem wir uns bis in die Backstage-Area durchgeschlagen haben, zeigt Wyman uns die Fitness- und Entertainment-Einrichtungen und das große Büffet dort, an dem wir endlich auch Ronnie, Keith und Mick treffen. Es ist eine halbe Stunde vor Showbeginn, und wir laben uns mit ihnen gemeinsam an dem von den VIPs bereits weitgehend abgegrasten Angebot (zu trinken gibt es jetzt nur noch Dosenbier). Anders als die anderen Gäste der Stones dürfen wir von hinter den Boxen aus zusehen (irgendwo da werden wir auch Alvenia Bridges wiederbegegnen, die wir am Vorabend schon kennenlernen und fotografieren durften. Sie hat eine unbeschreibliche Ausstrahlung, modelte gemeinsam mit Jerry Hall für Francesco Scavullo und wird unter anderem mit Jimi Hendrix, Eric Burdon und Eric Clapton in Verbindung gebracht. Hier auf der Stones-Tour managt sie irgendeinen Bereich – welchen, durchschaut aber keiner so genau…). 

Bill Wyman und Michael Reinboth hinter der Bühne beim Aufwärmen.

Dann beginnen Bill Wyman und Michael ein Tischtennisspiel (für Wyman müssen immer Tischtennisplatten bereitstehen, zur Entspannung und zum Warm-up vor den Auftritten). Keith Richards und Ronnie Woods gesellen sich dazu. Die beiden wirken wie zwei Jungs aus der letzten Bank auf Klassenfahrt; oder wie neugierige Vögel, die an einer Tüte Fish ’n’ Chips picken; Wandervögel eben. Bill Wyman hingegen freut sich offensichtlich, dass er heute seine eigenen Gäste hat, und Charlie schmunzelt uns nur zu. Bloß Mick Jagger checkt ruhelos durch die Gegend: Börsenkurse, Stones-Tantiemen, neue Deals, keiner weiß, was ihn umtreibt. Und obwohl ELASTE in den Matches gegen den gelassen parierenden Wyman zu unterliegen scheint, will Jagger den endgültigen Ausgang des Spiels nicht mehr abwarten – das ja auch schon den Konzertbeginn verzögert hat. Er ruft die beiden zur Raison und zu den letzten Ritualen vor der Show.
 
Die Betriebsamkeit hinter Bühne steigert sich da plötzlich ins Maßlose, die Roadies verfallen von jetzt auf gleich in empfindliche Hektik, wir werden aus der Schusslinie gedrängt und stehen auf einmal zwischen Lautsprechern und Verstärkern im Rücken der Stones.

Mick Jagger: “Start me up”.

Man hört ein Intro von Duke Ellington, es wird überlagert von einer Stimme, sie tönt durchdringend etwas wie „Hannover, thank you for waiting…“ und: „Ladies and Gentleman, would you please welcome… The Rrrrrrrrrrrrrrrrolling Stooooones…!“ Die ersten Takte von ‚Under My Thumb‘ erklingen, der Vorhang geht auf, die Band stürmt die Bühne, sie leuchten in ihren Outfits in Neonnuancen… Ein einziges Kreischen und ein Meer von Blitzlichtern branden uns entgegen… Tausende Luftballons steigen jetzt auf, Farben, Akkorde, Menschen, alles vibriert, alles ist magisch, die Show hat begonnen, mein Adrenalin das oberste Level erreicht, und die Silhouetten der Stones heben ab in den Abendhimmel, fliegen in die Zukunft, wilde Flamingos… …nein, it ain‘t all over… …love the day when they’ ll never stop… …ihre Zeit ist noch lange nicht vorbei…!

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In dieser Nacht im Frühsommer ‘82 haben die Rolling Stones das Pingpongspiel für immer gewonnen: Der zweite Konzertabend im Hannoveraner Niedersachsenstadion war für uns von ELASTE ein Initiationsritual, spätestens da, backstage, griff das Feuer auch auf uns über und wir wurden für alle Zeiten zu Fans der sich ewig neu erfindenden, der ehern morphenden Stones. Diese Momente, in denen ich die Band hautnah erleben durfte, zähle ich zu den glücklichsten meines Lebens, und ich schwöre mir damals hoch und heilig, keine Tour mehr zu verpassen, solange es die Stones und mich gibt. Bis heute habe ich mich an mein Gelübde gehalten.

Text: Larissa Beham nach Aufzeichnungen von Thomas Elsner (C) 2020
Fotos: Thomas Elsner (C) 1982